Taubblindheit / Hörsehbehinderung

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Barbara McLetchie und Marianne Riggio
Kommunikation: Interaktive Beziehungen
Übersetzung: Gudrun Lemke-Werner

Einführung

Soziale Beziehungen sind die Grundlage für Kommunikation. Kommunikation beinhaltet den Wunsch, mit einem anderen Menschen in Kontakt zu treten. Die vorantreibende Kraft bei der Entwicklung von Kommunikation ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen zwei Personen. Kommunikation ist das Mittel, durch das Beziehungen etabliert und erhalten werden.

Starke Bindungen zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson ermöglichen ein Wohlgefühl und erleichtern die kognitive und kommunikative Entwicklung. Von Geburt an ist das Kind ein wirksamer Kommunikationspartner. Die Mutter reagiert sofort auf das Schreien ihres Babys und nach kurzer Zeit ist sie in der Lage, unterschiedlich Schreien und unterschiedliche Geräusche des Kindes richtig zu interpretieren (zum Beispiel Hunger, Wunsch nach Aufmerksamkeit, Zufriedenheit). Die Mutter folgt ihrem Kind intuitiv und entwickelt die beste Basis für kommunikative Interaktionen mit dem Kind. Mutter und Kind tauschen Blicke aus; die Mutter berührt das Kind sanft; die Mutter imitiert und beantwortet die Bewegungen und Laute des Kindes mit eigenen Bewegungen und Lauten; Reziprozität oder sich aufeinander beziehende Wechselseitigkeit beginnt. In diesen Handlungen liegt der Beginn der emotionalen Bindung, liegen die Bande, die das Sprungbrett für die menschliche Entwicklung bilden.

Wenn Kinder mit Taubblindheit geboren werden, gibt es viele Herausforderungen, die die wichtigen frühen interaktiven Erfahrungen zwischen ihnen und ihrer Familie belasten. Viele von ihnen haben zusätzliche Behinderungen und gesundheitliche Probleme. Manche Kinder können möglicherweise nicht schreien oder schreien nicht normal, sodass sie die Aufmerksamkeit ihrer Bezugsperson nicht erlangen können. Dies kann dazu führen, dass das Kind sich machtlos fühlt.

Durch die Sehschädigung ist der wechselseitige Blickkontakt zwischen Mutter und Kind verzerrt oder nicht vorhanden. Möglicherweise kann die Mutter unübliche Wege der Kommunikation ihres Kindes nicht verstehen beziehungsweise nicht beantworten. Anstatt zu lächeln, bewegt ein blindes Kind vielleicht die Hand, wenn es glücklich ist. Ein Kind mit einer Körperbehinderung könnte grimassieren, obwohl es glücklich ist. Mutter und Kind entwickeln eventuell Gefühle von Unzulänglichkeit und Unsicherheit. Dieses Szenario muss jedoch nicht eintreten. Mit überlegter und aufmerksamer Intervention können taubblinde Kinder und ihre Familien eine positive und liebevolle Beziehung entwickeln.

Die Notwendigkeit, Bindungen mit andere herzustellen

Erinnern wir uns daran, wie Mütter und Babys Bindungen miteinander herstellen. Menschen, die mit taubblinden Kindern arbeiten, können viel lernen, wenn sie die große Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung kennen. Wir alle haben das Bedürfnis nach Bindung und Vertrauen. Beides ist die Grundlage dafür, dass wir zufrieden sind, uns mit anderen verbunden fühlen. Wenn wir an unsere eigenen Erfahrungen zurückdenken, werden wir uns daran erinnern, dass unsere Lieblingslehrer diejenigen waren, die ein aufrichtiges Interesse an uns gezeigt haben. Wenn ein Kind fühlt, dass man sich nicht um es kümmert, wird es nicht lernen.

Unterstützung durch andere, um Beziehungen aufzubauen

Denke daran, was du alles gelernt hast, ohne dass es dir ausdrücklich beigebracht wurde. Taubblinde Kinder müssen vorsichtig und überlegt über eine Vielzahl von Dingen unterrichtet werden, die andere Kinder zufällig und nebenbei lernen. Kinder, die sehen und hören können, lernen beiläufig durch Zuhören und Beobachten von Ereignissen und durch Experimentieren in alltäglichen Lebenssituationen und Interaktionen. Sie lernen beiläufig, dass Wasser aus dem Wasserhahn kommt, was Bäume und Gras sind, was Lachen und Weinen bedeutet und so weiter. Sie erlernen Sprache und – dies ist am wichtigsten – sie lernen wie man Beziehungen herstellt.

Kombinierte Hör- und Sehschädigung bedeutet eine einzigartige Herausforderung. Das taubblinde Kind ist abhängig von einer Person, die ihm hilft, etwas über die Welt zu lernen und Beziehungen aufzubauen. Menschen mit Taubblindheit werden immer Beziehungen zu Menschen brauchen, die eine Brücke von der Isolation zur Interaktion schlagen. Der Erzieher hat viele Rollen und Verantwortlichkeiten für ein taubblindes Kind. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, eine fürsorgliche, vertrauensvolle Beziehung mit dem Kind aufzubauen.

In diesem Kapitel wurden fundamentale Konzepte dargestellt, die wesentlich sind für den Aufbau einer sozialen Beziehung und die Grundlage bilden für Kommunikation und Glück im Leben der Bezugsperson und des Kindes.

Die Macht der Berührung in der Beziehung

Wir alle benutzen Berührungen, um andere Gefühle mitzuteilen. Man denke an die unterschiedlichen Arten, mit der durch Berührungen kommuniziert werden kann: Eine Berührung an der Schulter kann Mitleid oder Aufmunterung bedeuten; das Halten der Hand in einer herzlichen Art und Weise kann Fürsorge zeigen, Berührungen unbewusst einzusetzen ist kritisch, wenn es sich um taubblinde Kinder handelt, auch wenn sie noch ein verwertbares Sehvermögen haben. Berührungen sorgen für ein Feedback und Informationen, die normalerweise über Mimik und Körpersprache vermittelt werden.

Für taubblinde Kinder ist Berührung die wirksamste und ursprünglichste Form der Kommunikation. Taubblinde Kinder vermitteln durch Berührungen ihre Gedanken, Gefühle, Neugier, Interessen, Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen. Emotionen und Gedanken fließen auch durch unsere Berührungen – meistens durch unsere Hände. Viele taubblinde Kinder verstehen komplexe gesprochene oder gebärdete Sprache nicht; alle Kinder verstehen jedoch Gefühle, die mit Berührungen verbunden sind.

Begrüßung, Erkennen von Personen, Abschied

Alle sozialen Interaktionen haben einen Beginn, eine Mitte und ein Ende. Taubblinde Erwachsene haben die Wichtigkeit von Berührungen ausgedrückt und Vorschläge für Begrüßungen, das Erkennen von Personen und das Signalisieren des Endes einer Interaktion gemacht.

Begrüßung

Danke darüber nach, wie du begrüßt werden möchtest und wie du andere begrüßt. Die Art und Weise des Körperkontaktes, mit dem du dem Kind begegnest, bestimmt den Ton einer Interaktion. Eine freundliche Berührung der Schulter oder des Handrückens sind im Allgemeinen der respektvollste und angenehmste Weg, um dem Kind zu zeigen, dass man da ist. Denke daran, dass viele Kinder mit körperlichen und neurologischen Behinderungen möglicherweise kein Gefühl auf dem Handrücken haben und Berührungen an der Schulter oder am Knie brauchen. Andere Kinder könnten eine festere Berührung brauchen, um zu spüren, dass jemand ihre Aufmerksamkeit haben möchte. Beobachte die Reaktion des Kindes sorgfältig, um zu entscheiden, welche der beste Weg ist, um ihm zu sagen, dass du hier bist.

Erkennen von Personen

Wenn das taubblinde Kind begrüßt wurde, ist es wichtig, sich durch ein Zeichen zu identifizieren. Es ist respektlos, sich einem Kind zu nähern, ohne ihm zu sagen, wer man ist. Wir sollten es auch mit seinem Namen begrüßen. Viele taubblinde Kinder sind nie so mit ihrem Namen angesprochen worden, dass sie ihn verstehen. Überlege, wie belastend es für die Selbsteinschätzung des Kindes sein kann, seinen eigenen Namen nicht zu kennen.

Lasse dich bei der Festlegung von persönlichen Zeichen (zum Beispiel Namen) für das Kind und dich selbst vom Kind führen. Suche Eigenschaften, die auf das Kind abgestimmt sind. Trägt ein Kind seine Lieblingsbaseballkappe jeden Tag, könnte ein Duplikat als Name und Grundlage für ein Namenszeichen genutzt werden. Um ein Erkennungszeichen für sich selbst festzulegen, überlege, welche deiner Eigenschaften das Kind interessiert. Beispielsweise mag das Kind an den Ohrringen ziehen. Dieses Interesse kann verwandelt werden in einer Berührung des Ohres in Zusammenhang mit einem Namenszeichen. Arbeite mit anderen Personen zusammen, um sicherzustellen, dass jede Person ein anderes Erkennungszeichnen hat und dass dieses beständig angewendet wird. Es ist sehr verwirrend, wenn zwei Personen als Erkennungszeichen gleiche Armbänder benutzen.

In unseren Unterlagen sprechen wir häufig über Leute, die uns nahestehen. darum müssen wir dem Kind eine Möglichkeit geben, über für sie wichtige Menschen zu sprechen, auch wenn sie nicht anwesend sind. Ein zweiter Hut, Ohrring et cetera sollte verfügbar sein, damit das Kind Gelegenheit dazu hat. Das Duplikat kann ebenfalls Sicherheit vermitteln, wenn die vertraute Person nicht da ist.

Wenn das Kind älter wird, ist es wichtig, über gesellschaftliche Auflagen in der Kommunikation nachzudenken. Kleine Kinder mögen die Haare oder Ohrringe als Erkennungszeichen berühren. Wir müssen jedoch daran denken, dass es wenig akzeptiert wird, wenn ein älteres Kind das Gesicht einer anderen Person berührt. Berührungen des Kopfes können auch nicht wünschenswerte Verhaltensweise hervorrufen (zum Beispiel Haare ziehen). Es ist ein guter Vorschlag, dem Kind dabei zu helfen, Berührungen auf den Arm oder in die Hand in Verbindung mit einem Namenszeichen zu überführen. Erkennt dich ein Kind beispielsweise an deinem Ring oder Armreifen plus Namenszeichen (wie der erste Buchstabe deines Namens), so führe dieses in seiner Hand aus.

Verabschiedung

Denke darüber nach, wie du dich fühlst, wenn jemand mitten im Gespräch weggeht oder das Telefon einhängt ohne „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Überlege, welche Konsequenzen dieses Verhalten für ein Kind hat.

Wie man sich vom taubblinden Kind verabschiedet, hängt von seinem Alter und seiner Kommunikationstechnik ab. Wenn das Kind keine symbolische Sprache versteht, kann eine visuelle oder taktile Geste wie „Winken“ gekoppelt mit dem Namenszeichen genutzt werden. Lasse das Kind wissen, dass du zurückkehren wirst, um ihm Sicherheit zu geben. Gib ihm ein Objekt, das es mit dir in Verbindung bringt. Wenn das Kind über eine gut entwickelte Sprache verfügt, wirst du es verlassen wie jemanden, der hören und sehen kann, nur dass die gesprochene Sprache möglicherweise durch Zeichen oder Gebärden ersetzt wird. Denke immer daran, dass es extrem ungehobelt ist, ein taubblindes Kind zu verlassen, ohne sich zu verabschieden.

Antizipation mit Hilfe von Berührungen

Überlege, wie oft du Sehen und Hören benutzt, um vorauszusehen, was als Nächstes passieren wird. Bedenke, wie beängstigend die Welt werden kann, wenn du nicht weißt, was geschehen wird. Berührungen vermitteln nicht nur Gefühle, sondern liefern Hinweise und Informationen, die dem Kind helfen, kommende Ereignisse zu antizipieren. Hörende und sehende Kinder sind aufgrund von visuellen und auditiven Hinweisen dazu in der Lage zu antizipieren. Beispielsweise streckt ein Vater die Arme aus und sagt: „Komm!“, um dem Kind zu zeigen, dass er es hochnehmen wird. Hinweise durch Berührungen können stellvertretend eingesetzt werden für visuelle und auditive Reize oder sie können eine zusätzliche Information sein, um Handlungen mit dem Hör- und Sehverlust in Einklang zu bringen.

Es gibt Wege, um dem taubblinden Kind verständliche und respektvolle Hinweise durch Berührungen/Gesten anzubieten. Auch wenn Berührungsreize notwendig sind, um antizipieren zu können, ist es wichtig, über die Art und Weise des Einsatzes und darüber, wie sich das Kind dabei fühlt, nachzudenken. Versuche, dich in das Kind hineinzuversetzen. Es ist respektlos, ein Kind ständig nur anzutippen, um es dazu anzuhalten einer Aktivität nachzukommen. Eine Möglichkeit, das Kind wissen zu lassen, dass wir es hochnehmen wollen, kann darin bestehen, zuerst seine Ellenbogen anzuheben. Bedenke dabei die Größe und Körperbehinderung des Kindes. Zwei- oder dreimal unter den Ellenbogen zu tippen, könnte das Kind erschrecken oder verwirren. Ein sanftes und festes Anheben des Ellenbogens kann angemessener und bedeutungsvoller sein. Es kann für ein Kind sehr unangenehm sein, wenn man ihm auf den Mund tippt, um das Essen anzukündigen. Es bevorzugt vielleicht seine Hand auszustrecken und zu fühlen, wie du an deinen Mund tippst. Die Beobachtung der Reaktionen des Kindes auf verschiedene Berührungen verhilft dir zu größeren Einfühlungsvermögen und verbessert letztendlich seine Fähigkeit, angemessene Berührungshinweise zu geben. Diese müssen beständig eingesetzt werden und so einfach wie möglich sein.

Hand unter der Hand

Überlege, wie du dich fühlen würdest, wenn jemand die Kontrolle über deine Hände übernehmen würde. Hände sind wirksame Werkezuge, um einem taubblinden Kind Gefühle und Informationen zu vermitteln. Darum müssen wir sorgfältig überlegen, wie wir die Kinder ermutigen können, etwas über die Welt zu lernen. Erfolgt das Erkunden von Gegenständen, indem du deine Hände dabei unter die des Kindes schiebst, wird ihm demonstriert, dass du etwas mit ihm gemeinsam tun möchtest, aber es nicht manipulieren willst. Dies ist eine wichtige Unterscheidung. Manipulieren wir die Hände des Kindes, verursachen wir vielleicht den Verlust seines Wunsches nach Erkundung und Interaktion mit anderen. Das Resultat kann Passivität und Hilflosigkeit sein. Das Kind hat das Gefühl, keine Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben und dadurch kann sein Selbstwertgefühl negativ beeinflusst werden.

Die Hände sind wie die Ohren, die Augen und die Stimme des Kindes. Wenn ein Kind ein Objekt erkundet, schließe dich ihm vorsichtig an und platziere einen Finger unter seiner Hand. Gemeinsames Tasten ist gleichbedeutend mit dem gemeinsamen Betrachten von Dingen. Wenn du dem Kind etwas zeigen möchtest, lade es dazu ein, seine Hände auf deine zu legen und bewege sie zum Objekt. Erlaube ihm, das Objekt zu berühren, während du es erkundest. Nimm deine Hände allmählich zur Seite, wenn das Kind den Kontakt mit dem Objekt herstellt.

Greifen

Sehen und hören motivieren das Kind zu greifen und etwas über die Welt zu lernen. Taubblinde Kinder erscheinen oft sehr passiv, mit Selbststimulation beschäftigt oder mit Verhaltensweisen, die von innen gelenkt werden (zum Beispiel Beklopfen des eigenen Körpers, Hände in den Mund stecken). Die Bedeutung der „Hand unter der Hand“-Technik für die Exploration wurde bereits erläutert. Wenn ein kleines Kind spricht und dabei Fehler macht, nimmt die Mutter hin, was das Kind zu sagen hat und wiederholt den Inhalt in der sprachlich korrekten Form. Sie modelliert nicht die Lippen des Kindes, um das richtige Wort zu formen. Wenn ein taubblindes Kind durch Gesten etwas ausdrückt, akzeptiere es und lasse es deine Hände anfühlen, wenn du es in der korrekten Form gebärdest.

Es ist störend und verwirrend für das Kind, wenn seine Hände genommen und zu Zeichen geformt werden. Um die Entwicklung einer natürlichen Kommunikation zu ermöglichen, lass deine Hände durch die des Kindes abfühlen, wenn du mit ihm sprichst. Denke daran, dass die Welt des Kindes größer und größer wird, je mehr es lernt, sie zu ergreifen.

Wir müssen Gelegenheiten für Dialoge schaffen zwischen unseren Händen und denen des Kindes, die dieselbe Struktur haben (von Angesicht zu Angesicht, hin und zurück) wie gesprochene Konversation. Es hilft dem Kind nicht, wenn du hinter ihm stehst und seine Hände zu Zeichen formst für das, was du ihm sagen möchtest.

Wenn du deine Hände für das Kind erreichbar machst und seine Berührungen beantwortest, wird du es ermutigen, dir zu vertrauen und dich als eine Informationsquelle zu akzeptieren. Dies wird eure Beziehung bereichern und ein Sprungbrett sein, das zu weiterem Lernen motiviert.

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