Jugendliche+Erwachsene (Leseprobe 2)

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Wie das alles so kam

Ein vom CHARGE-Syndrom1 betroffener junger Mann berichtet

Christian Pawlak

Im Juni 2013 kam Claudia Junghans (1. Vorsitzende vom CHARGE-Syndrom-Verein) auf mich zu und fragte bei mir an, ob ich einen Artikel für ein Buch, das der Verein herausgeben möchte, schreiben will. Sie hatte an eine Art Lebenslauf gedacht. Ich sagte zu. So nun sitze ich da und frage mich, wo soll ich bloß anfangen zu erzählen und zu schreiben? Hobbys? Schule? Beruf? Kleinkindalter? Hm … am besten von Anfang an. Irgendwo in der Mitte anzufangen, ist ja doof. Los geht’s!

Geburt und frühe Kindheit

Das Licht der Welt habe ich am 9. April 1986 in einem Krankenhaus in Uelzen/ Niedersachsen erblickt. Zwei Jahre später zog es meine Eltern aus Uelzen weg. Gelandet sind wir in Nürnberg/Bayern. Dort bin ich aufgewachsen und wir leben heute noch in dieser Stadt.

Christian Pawlak

An meine frühe Kindheit kann ich mich wenig bis gar nicht erinnern. Deshalb habe ich letztens meine Mutter gefragt: Wie war sie? Welche Schwierigkeiten hatte ich mit meiner Behinderung? Sie antwortete, dass mir viele Dinge, zum Beispiel sprechen lernen, laufen … sehr schwergefallen sind und ich dafür viel mehr Zeit benötigte, als andere Kinder in meinem damaligen Alter. Es gibt aber etwas aus dieser Zeit, an das ich mich sehr gut erinnern kann, und zwar, wie ich Fahrrad fahren ohne Stützräder gelernt habe. Mann, das war vielleicht eine zähe Angelegenheit!

Christian schiebt einen Kinderwagen

Ich bin unzählige Male gestürzt. Mal auf die eine, dann auf die andere Seite umgekippt. Aufgeben war aber nicht drin! Einerseits war es der unbändige Wille, der Ehrgeiz in mir, der mich immer wieder und weiter angetrieben hat, andererseits wollte ich auch wie die Nachbarskinder, wie meine Eltern … Fahrrad fahren können. Eines Tages war es dann endlich so weit. Ich konnte mein Gleichgewicht so halten, dass ich nicht mit dem Bike umfiel. Die eine Hand umklammerte das Lenkrad, die andere Hand lehnte an einem Pfosten. Ich stieß mich ab und fuhr los. Kein Sturz. Es ist nichts passiert. Nach einer kleinen Strecke bin ich abgestiegen und habe über das ganze Gesicht gestrahlt. Seit diesem Tag konnte ich ohne Hilfe und ohne Stützräder Fahrrad fahren.

Schulzeit

Mit sechs Jahren war ich leider noch nicht so weit, eingeschult zu werden. Da gab es noch erheblich Defizite (zum Beispiel psychischer Entwicklungsrückstand, visuo-motorischen Koordinationsschwierigkeiten und im Erfassen räumlicher Beziehungen …). Ich wurde für ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt und bin diese zwölf Monate in einer Diagnose- und Fördergruppe der schulvorbereitenden Einrichtung gefördert worden. Somit kam ich im zarten Alter von sieben Jahren in die Schule. Ich ging zehn Jahre lang in die Schule, in ein Zentrum für Schwerhörige.

Christian mit Schultüte

Dank der Fördergruppe fiel mir der Schuleinstieg etwas leichter. Schwierigkeiten gab es trotzdem. Wieder habe ich viel Zeit gebraucht, um etwas zu erlernen. Vieles, was uns beigebracht wurde, habe ich auch nicht verstanden. Der sogenannte Aha-Effekt kam in vielen Fällen erst später. Da waren aber natürlich meine Lehrer und Mitschüler schon weiter mit dem Stoff. So musste ich viel nacharbeiten. Meine Mutter hat mich da sehr unterstützt, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Dazu kam mir aber auch wieder mein Ehrgeiz, Wille, Fleiß … zugute, um vieles aufzuholen und mich im Laufe der Jahre an die vorgegebene Leistungserbringung und das Niveau der Hauptschule anzupassen.

Die auditive und die visuelle Wahrnehmungsstörung sind in vielen Situationen dafür verantwortlich, dass Informationen und Ereignisse, die passieren, sowie vieles weitere verzögert, nicht vollständig, gar nicht … bei mir ankommen. Somit dauert auch die Verarbeitung von Informationen und anderen Dingen länger. Mittlerweile kann ich damit umgehen, habe trainiert, um mit diesem Problem besser klarzukommen (ganz weg wird es dennoch nie gehen). Auch eine Brille und Hörgeräte halfen mir, mit den oben genannten Wahrnehmungsstörungen besser zurechtzukommen. Zudem informiere ich meine Mitmenschen darüber.

Christian auf einer Bank

Nur in meiner Schulzeit konnte ich dies nicht, beziehungsweise tat ich mich schwer dabei. Auch hatte ich damals sehr spärliche Informationen über meine Behinderung. Dementsprechend konnte ich meinen Lehrern und Mitschülern sehr wenig bis gar nichts über das CHARGE-Syndrom erzählen. Dies hat dazu geführt, dass es zwischen mir und meinen Mitschülern sowie meinen Lehrern viele Missverständnisse gab. Ein Resultat aus diesen Missverständnissen war, dass ich mich nicht gut in die Klassengemeinschaft einbringen konnte. Trotz der Schwierigkeiten habe ich auch dank meiner Mutter die Hauptschule gut gemeistert und erfolgreich abgeschlossen.

Erste Ausbildung: Kaufmann für Bürokommunikation

Bevor meine erste Ausbildung begann, absolvierte ich in einem Berufsbildungswerk in Rummelsberg (Bayern, Mittelfranken) ein Berufsfindungsjahr. In meiner vorberuflichen Maßnahme habe ich folgende Berufe durchlaufen: Elektrotechnik, Metalltechnik sowie Büropraxis (Wirtschaft und Verwaltung). Am Ende dieses Jahres habe ich mich für den Ausbildungsberuf Kaufmann für Bürokommunikation entschieden. In dieser Zeit kam ich mit dem Lernen viel besser zurecht. Auch das Verstehen von verschiedenen Sachverhalten et cetera verbesserte sich stetig.

Zur Ausbildungszeit, die drei Jahre dauerte, gehörte auch der Besuch einer Berufsschule. Die war auch im Berufsbildungswerk (BBW) Rummelsberg. Teil der Lehre war auch in verschiedenen Firmen Praktikum zu machen. Diese Praktika habe ich zum Beispiel in der Nürnberger Versicherung und bei der Übungsfirma (Multimodell Werbe GmbH) gemacht. Zum Schluss meiner Ausbildung habe ich erfolgreich vor der Industrie- und Handelskammer Nürnberg meine Abschlussprüfung zum Kaufmann für Bürokommunikation abgelegt. In dem Gebäudekomplex des BBW Rummelsberg ist auch ein Internat gewesen. Dort hatte ich gewohnt und bin nur an den Wochenenden nach Hause gefahren. Diese insgesamt vier Jahre in Rummelsberg haben sehr viel zu meiner persönlichen und beruflichen Entwicklung beigetragen.

Nach diesen Ausbildungsjahren war ich ein Jahr lang arbeitslos. Ich habe mich bei vielen Firmen beworben, aber leider nur Absagen bekommen. Zu den Bewerbungen am Arbeitsmarkt kamen Bewerbungen für einen anderen Ausbildungsberuf hinzu. Da hatte ich zwei Zusagen von der Stadt Fürth und der Stadt Nürnberg. Gelandet bin ich bei der letztgenannten Stadt.

Zweite Ausbildung: Mittlerer nicht-technischer Verwaltungsdienst (Beamtenausbildung/-laufbahn)

Meine Mutter hatte mich auf eine Zeitungsannonce aufmerksam gemacht. In der warb die Stadt Nürnberg um Anwärter/-innen für den in der Überschrift genannten Lehrberuf.

Der Ablauf der Ausbildung nachstehend in Stichpunkten:

  • An einem Ausleseverfahren teilgenommen und bestanden.
  • Vorstellungsgespräch lief sehr gut, wurde genommen.
  • Ausbildung (Dauer: zwei Jahre) – Beamter auf Widerruf.
  • Laufbahnprüfung gemacht und bestanden.
  • Probezeit von zwei Jahren – Beamter auf Probe.
  • Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit nach der Probezeit.

Teil dieser Lehre war auch der Besuch der Bayerischen Verwaltungsschule (BVS) in Nürnberg. Im Unterricht haben wir unter anderem Gesetze verstehen, sie anwenden, Schreibstile (zum Beispiel Urteilstil, Gutachtenstil) … gelernt. In der Bayerischen Verwaltungsschule (BVS) habe ich auch nicht mehr oft versucht, gleichzeitig Notizen aufzuschreiben und dem Dozenten zuhören. Denn dies kann ich schlecht. Es geht immer irgendwas unter, wenn ich beides versuchte, beispielsweise ausprobierte. Meistens habe ich mich auf das Hören konzentriert (oder mal zwei, drei Stichpunkte notiert). Die Lehrer gaben mir dann die nötigen Arbeitsblätter mit. Doch nicht nur die haben mir geholfen, auf dem Laufenden zu sein, sondern auch Bücher, Hefte, die Gesetze. Wie so oft musste ich viel nacharbeiten. Das Aufbleiben und Lernen bis zur Geisterstunde war für mich damals nichts Ungewöhnliches. Doch auch bei meinem ehemaligen Nachbarn bedanke ich mich sehr für seine tatkräftige Unterstützung in den zwei Ausbildungsjahren.

Auch hier waren wieder Praktika Teil der Ausbildung. Die habe ich zum Beispiel im Amt für Wohnen und Stadterneuerung, Bürgeramt Ost und Gesamtschwerbehindertenvertretung absolviert.

Noch eine Lehre zu machen hat sich voll und ganz gelohnt. Nun habe ich einen sicheren Job bei der Stadt. Darüber freue ich mich sehr.

Arbeit bei der Stadt Nürnberg, Kassen- und Steueramt, Abteilung Anlagenbuchhaltung

Ich arbeite zurzeit im Kassen- und Steueramt. Abteilung Anlagenbuchhaltung. Acht Stunden am Tag (40-Stundenwoche). Diese Abteilung verwaltet die Anlagen der Stadt Nürnberg. Dazu gehören bewegliche Vermögensgegenstände (Schreibtische, Autos …), unbewegliches Vermögen (Gebäude der Stadt, Straßen, der
U-Bahnbereich (Untergrund-Bahnbereich) …), Grundstücke und viele weitere Aufgaben.

Zu meinen Aufgaben gehören unter anderem

  • das Prüfen und Anlegen von Investitionsaufträgen, Abrechnen der Investitionsaufträge;
  • Buchen von investiven Vorgängen;
  • Mithilfe der Erstellung des Jahresabschlusses;
  • Erteilung von Auskünften und bearbeiten des Posteinlaufs;
  • Sonstige periodische Arbeiten und statistische Auswertungen.

Bevor ich zum letzten Teil komme, möchte ich eine kleine Vorabinformation geben. Viele der unten genannten Dinge sind erst dann geschehen, mache ich seit kurzem, das heißt, nachdem ich ausgezogen bin, eine tatkräftige Unterstützung von alten und neuen Freunden, Bekannten hatte und bis heute habe. Dafür bin ich sehr dankbar!

Eigene Wohnung und Freizeit

Im Oktober 2010 zog ich aus meinem Elternhaus aus. Dies geschah mit dem Ziel, ein eigenständiges, eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Mittlerweile sind drei Jahre vergangen, seitdem ich in meine erste Wohnung zog, in der ich heute noch alleine hause. Das, was ich mir vorgenommen habe (Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit …), ist mir gelungen. Darauf bin ich stolz. Alle anfallenden Aufgaben erledige ich selber, wie zum Beispiel Haushalt (waschen, bügeln, kochen, einkaufen), finanzielle Angelegenheiten, Behördengänge und vieles mehr.

Christian vor einem Kunstwerk

In meiner Freizeit bin ich viel unterwegs, habe viele Interessen und Hobbys. Eines meiner Lieblingshobbys ist Tanzen. Es macht einfach Spaß, zur Musik das Tanzbein zu schwingen. Dies mache ich inzwischen seit acht Jahren und habe alle Kurse bis zum Gold-Kurs belegt. Ich besuche viele Tanzpartys, Abschlussbälle … in einer Tanzschule in Nürnberg (Tanzzentrum Krebs).

Tänze, die ich gelernt habe und tanze sind zum Beispiel Tango, Samba, Cha-Cha-Cha, Jive, Discofox, Mambo, Swing, Rumba, langsamer Walzer …

Meine anderen Hobbys, Tätigkeiten sind zum Beispiel:

Ehrenamtliche Tätigkeit

Ich bin seit fast zwei Jahren ehrenamtlich in einem Kinderhort in Nürnberg tätig. Der Kinderhort heißt Gostini und gehört zum Degrin e. V. (eingetragener Verein), einer Integrationseinrichtung. In dieser Einrichtung arbeiten drei Erzieher, viele ehrenamtliche Mitarbeiter und auch Aushilfskräfte. Jeden Freitag von 14:00 bis 16.30 Uhr gehe ich dorthin und helfe bei der Freizeitbetreuung der Kinder mit. Die insgesamt 30 Kinder sind zwischen sechs und elf Jahre alt.

Zu den Freizeitaktivitäten gehören unter anderem verschiedene Spiele (zum Beispiel Fußball, Geschicklichkeitsspiele, Gesellschaftsspiele …), Ausflüge (in den Park gehen, Wanderausflüge, Stadtführungen …) und vieles mehr. Es bereitet mir immer eine große Freude jeden Freitag in den Kinderhort zu gehen und mit den Kindern zu spielen. Auch die Atmosphäre dort ist super. Die Erzieher sind alle sehr nett.

Improvisationstheater

Ich spiele seit vier Jahren in einer Improvisationsgruppe (Keckos) mit. Sie wurde im Oktober 2009 gegründet. Ich gehöre zu den Gründungsmitgliedern. Wir sind zurzeit sieben Personen.

Bei dieser Form des Theaters trainieren wir viele Spiele, haben aber nicht den Ablauf der Szenen geprobt und keine Texte einstudiert. Alles, was auf der Bühne geschieht, ist spontan herausgespielt und einmalig. Es gibt bis auf ganz kleine Ausnahmen keine Requisiten.

Wir treffen uns einmal wöchentlich und trainieren die Spiele (zum Beispiel Kinoimprovisation, 8-Gefühle, Taxi …), die wir bei einem Auftritt spielen, die wir noch nicht kennen, in denen wir uns verbessern wollen ... bei den Trainings arbeiten wir auch zum Beispiel an verschiedenen Charakteren, Charaktereigenschaften, Einbau von Elementen (singen, tanzen …) und vieles mehr. Auf der Bühne zu stehen und mit meinen Schauspielkollegen zu improvisieren macht Laune.

Tai–Chi–Chuan

Im November 2012 habe ich mit dem Tai-Chi-Chuan angefangen. Tai-Chi-Chuan gehört zu den weichen Kampfkünsten. Heutzutage steht auch häufig der gesundheitliche Aspekt (aus diesem Grund mache ich diese Sportart) beim Training des Tai-Chi im Vordergrund. Der Name gliedert sich in zwei Teile.

  • Tai–Chi als philosophischer Fachbegriff, welcher mit »das höchste Prinzip« übersetzt werden kann. Es ist der Ursprung von Ruhe und Bewegung.
  • Chuan bedeutet so viel wie »Faustkampf«.
  • Es gibt viele Stilarten beim Tai-Chi-Chuan. Vier andere und ich bekommen von unserem Trainer den Wu-Stil (Begründer war ein gewisser Wu-Quanyou) beigebracht.
  • Zu dem Training gehören:
  • fünf Vorübungen (zum Beispiel Doppelte Peitsche, Tasche heben, Wolkenhände),
  • Form,
  • Pushing Hands,
  • und die Theorie (was ist zum Beispiel die Ruhe, Ausdauer beim Tai-Chi).

Weitere Hobbys von mir sind Reisen, Freunde treffen, lesen, Sprachen lernen (zum Beispiel Gebärdensprache), Sport treiben (zum Beispiel schwimmen, Fahrrad fahren) und vieles mehr.

Nachwort

Die Zeit ist schnelllebig. Das sagt man ja heutzutage so und das ist auch so der Fall. Für Menschen mit dem CHARGE-Syndrom hat Zeit jedoch eine ganz andere Bedeutung, dies ist nicht nur heute der Fall, sondern war es auch früher schon. Wir Betroffenen brauchen viel länger, um etwas zu lernen, zu verstehen, mit unserem Körper klarzukommen …

Früher hat mich diese Tatsache immer wütend, enttäuscht und traurig gemacht. Ich habe nie verstanden, warum ich länger brauche als andere. Aber auch meine Mitmenschen und meine Familie hatten damit so ihre Schwierigkeiten. Nun aber nicht mehr. Warum? Es ist mein zweites Zuhause (der Verein CHARGE Syndrom e. V. (eingetragener Verein)), das mir hilft, mit meiner Behinderung besser klarzukommen, Einzelheiten der Behinderung besser zu verstehen, der Kontakt mit anderen Betroffenen tut mir gut. Ich bin überaus dankbar, dass es diesen Verein gibt. Die Idee, diesen Verein zu gründen, war spitze. Vielen lieben Dank dafür! Herzlichen Dank auch an alle meine lieben Freunde, meinen lieben Arbeitskollegen und Bekannten, die mir sehr geholfen haben / es heute noch tun und für den Spaß, den wir zusammen hatten und haben, die gemeinsamen Aktivitäten, die wir zusammen gemacht haben und noch hoffentlich machen werden :)! Auch wenn es in meiner Familie Schwierigkeiten und Missverständnisse in der Vergangenheit gab oder ich es ihr nicht immer leichtgemacht habe, trotzdem vielen lieben Dank für die Unterstützungen, die Fürsorge! Danke für alles!

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