Jugendliche+Erwachsene (Leseprobe 1)

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Freizeit – einsame Zeit?

Eine Taublindenassistentin berichtet
Almuth Kolb

Freizeit – ein Dilemma

Freizeit – das hört sich nach Entspannung und Erholung an, etwas Neues erleben, in der Natur aktiv sein, raus aus dem Trott, Freunde treffen, Spaß haben, Sport machen, ein Buch lesen und vieles mehr. Wir sind spaßorientiert, Freizeit tut gut. Wir gönnen jedem seinen Spaß, egal, ob behindert oder nicht. Selbstverständlich soll auch ein Mensch mit Behinderung Spaß erleben, er hat es doch sowieso schon so schwer.

Ein gut gemeinter Satz, denn der Alltag ist oft anstrengend. Die Belastungen sind für Menschen mit Behinderungen ungleich höher, als sie es für Menschen ohne Beeinträchtigungen sind. Es muss doch möglich sein, ein bisschen Spaß zu haben. Aber der Begriff Freizeit bedeutet nicht für jeden dasselbe. Für viele Menschen, die in ihrer freien Zeit nicht adäquat begleitet werden, schlägt die Freizeitgestaltung mit aller Wucht zu. Alles, was wir in bester Absicht anbieten oder sogar direkt veranlassen, wirkt bedrohlich. Wir haben tolle Einfälle und Pläne im Kopf, die wir auch prompt mitteilen. Wir erwarten freudestrahlende Gesichter und erhalten Ablehnung. Das ist ein Dilemma.

Hausarrest – Alltag für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung 1)

Freizeitangebote gibt es auch für taubblinde Menschen. Das steht außer Frage. Allein davon zu hören, zu erfahren, hinzukommen, Kontakt herzustellen, zu sprechen, sich auszutauschen, ist für Menschen mit Taublindheit ohne Unterstützung nicht möglich. Sie nehmen diese Angebote nicht wahr, da sie nicht davon erfahren. Die Angebote kommen selten oder gar nicht zu ihnen nach Hause, sondern sie finden in der Regel an anderen Orten statt. Die Hemmschwelle, einem Taubblinden zu begegnen und sogar zu berühren, ist so enorm hoch, dass wir selbst auch behindert sind im Umgang mit diesen Menschen. Das Leid der taublinden Menschen ist nicht körperlich, man sieht es ihnen auch nicht unbedingt an. Das Leid ist die Isolation, die Kontakt- und Informationsarmut, die Gefangenschaft auf begrenzten Raum. Hausarrest kennt man von politisch engagierten Bürger, die staatsfeindliche Äußerungen machen, vielleicht auch in der Kindererziehung. Aber Hausarrest ist Alltag für taublinde Menschen, die keine Unterstützung durch ihre Mitmenschen erfahren, keine Assistenz haben, die sie begleiten, sicher führen, Kontakte herstellen und sich sicher in den Kommunikationsformen des Betroffenen bewegen.

Freizeit mit Assistenz

Assistenz heißt, dass der Hilfsempfänger 2) durch den Unterstützer (Assistenten) seinen Alltag und seine Arbeit weitestgehend selbstständig bewältigen kann. Der Assistent erledigt nichts nach eigenem Gutdünken, sondern der Hilfeempfänger gibt klare Anweisungen bezüglich seines Hilfsbedarfs. Das Assistenzmodell basiert auf Kooperation beiderseits und soll dem Recht auf Selbstbestimmung Genüge leisten.

Im Folgenden benutze ich bewusst keine fachlich nüchterne Sprache, sondern beschreibe die Alltagssituationen, wie sie sind: konkret und ungekünstelt.

Als Taubblindenassistentin muss ich mich in den Bereichen Wohnen, Alltag und Freizeit auf jeden taublinden Menschen neu einstellen. Es gibt nicht die eine Lebensform oder so leben die Taubblinden.

Eingangs erwähnte ich die ablehnende Haltung vieler Menschen mit Taublindheit. Woher kommt dieser Argwohn? Synonyme dieses Begriffes sind: Misstrauen, Bedenken, Befürchtung, Skepsis oder Ungewissheit. Das allein spiegelt schon die seelische Verfassung vieler wider, bedingt durch die lange Zeit der Isolation. Die Erfahrungen im täglichen Leben tun ihr übriges, um diese Haltung zu manifestieren.

Grundsätzlich müssen wir immer folgendes beachten:

  1. Viele taubblinde Menschen haben oft so viel freie Zeit, dass ihnen langweilig ist. Sie haben keine Anreize, kaum Kontakte. Sie sitzen zu Hause und haben trotz der vielen freien Zeiten keine Freizeit, sondern die freie Zeit bedeutet Stress.
  2. Viele Menschen mit Taubblindheit sind oft übervorsichtig und ängstlich. Sie könnten stürzen, sich stoßen, kennen vieles nicht und haben Angst vor neuen Aktivitäten und - ganz allgemein - Angst vor dem Unbekannten.
  3. Taubblinde Menschen brauchen lange, bis sie zu einer Person Vertrauen aufgebaut haben. Ein gesundes Misstrauen ist normal, denn jede Situation birgt in sich die Möglichkeit der Enttäuschung. Der berechtigte Zweifel, ob die Situation oder die Information sich als wirklich und richtig darstellt, schützt vor Enttäuschung. Für Menschen mit Taublindheit ist es unabdingbar, viele verlässliche (Lebens-) Erfahrungen erworben zu haben, bevor ihr Misstrauen in Vertrauen umschlägt.

Stress, Angst, Vorsicht – das sind echte Spaßbremsen. Was kann ich als Assistentin tun? Vertrauen schaffen – das nimmt den Stress, die Angst lässt nach und man ist trotz aller Vorsicht vielleicht ein bisschen mutiger.

Vertrauen aufbauen, aber wie? Um eine taubblinde Person in jede Handlung mit einzubeziehen, braucht er hinreichende Informationen, übermittelt in seiner Kommunikationsform (Gebärden, Lormen, und andere mehr – generell ist erlaubt, was hilft, sich zu verständigen) und seinem Niveau anzupassen. Schnelles Sprechen, Gedankensprünge oder eine Fülle an Informationen sind tabu. Damit ersticke ich Vertrauen im Keim. Vertrauen kann ich nicht durch Zukünftiges gewinnen, durch Freizeitplanung in den kommenden Wochen (Wir können wandern, schwimmen gehen und ein Museumsbesuch machen und als Highlight in den Freizeitpark. Ist das nicht schön? Wumm, da ist sie wieder, die Freizeitplanung, mit ganzer Wucht) Vertrauen kann nur für den Moment im Hier und Jetzt wachsen. Ich kann es nicht voraussetzen und auch nicht unbedingt in Zukunft damit rechnen, dass die Person mir Vertrauen entgegenbringt. Die einzige, und unter Umständen immer wiederkehrende Methode, eine vertrauensvolle Basis zu schaffen, sind verlässliche Abläufe bei unseren Begegnungen und ein handlungsbegleitendes Sprechen. Handlungsbegleitendes Sprechen ist aus der Pädagogik bekannt. Für den Umgang bei Menschen mit Taubblindheit erweitere ich den Begriff noch um die Beschreibung der Umwelt. Ich beschreibe oder deute eine Gegebenheit, erzähle, was geschieht und helfe so, die jeweilige Situation zu bestehen (zum Beispiel, wenn ich mich bücke, um die Schuhe anzuziehen, bin ich für sie nicht in Armlänge erreichbar. Es ist für das Vertrauensverhältnis wichtig, dass sie weiß, ich bin da.). Wie ein Berichterstatter kann ich alles, was in der jeweiligen Situation von Bedeutung ist, erwähnen. Ein Beispiel: Die taubblinde Person möchte zum Friseur. Dadurch, dass ich ankündige (Ich werde telefonieren und einen Termin vereinbaren), erkläre (Wegen Urlaub ist der Friseursalon diese Woche geschlossen), Gefühle wahrnehme und benenne (Das ist schade, du wolltest ja vor deinem Geburtstag noch einen hübschen Haarschnitt haben), sie zur Zusammenarbeit motiviere (Willst du dich nach einem anderen Friseur umschauen?) und ihre Wahrnehmung bestätige (Bist du mit diesem Termin einverstanden?), ist sie in jeder Phase der Handlung involviert. Das handlungsbegleitende Sprechen ist die einzige Möglichkeit, in allen Situationen Ruhe und Verlässlichkeit auszustrahlen. So weiß die taublinde Person, woran sie ist. Ich gebe ihr eine Beschreibung dessen, was ich wahrnehme und überlasse es ihr, zu agieren und reagieren.

Freizeit ohne Eile – ein Fallbeispiel

Eine taublinde Person schwärmt davon, dass sie früher gerne Sport gemacht hat. Aber ohne Begleitung kann sie nicht ins Schwimmbad gehen. Ich schlage vor, dass wir zusammen ins Schwimmbad gehen können. Doch plötzlich zögert sie, ob das eine gute Idee ist? Bei so vielen Leuten, sie könnte ausrutschen, ob sie sich zurechtfindet und so weiter. Ab dem Moment muss ich mich ihrem Tempo anpassen. Ich lasse ihr Zeit, sich mit dem Gedanken auseinander zu setzen. Zu viel Motivation oder Ansporn kann belastend sein. Vor lauter Angst, dass sie den Besuch im Schwimmbad nicht bewältigt, macht sie lieber einen Rückzieher. Damit ich ihr Vertrauen nicht verliere, sprechen wir das Thema immer wieder an, sie kann von früher erzählen und vielleicht wächst im Lauf der Zeit die Lust.

Irgendwann, Wochen, Monate später gehen wir ins Schwimmbad. Es ist schwer. Das wichtigste ist, alles in Ruhe zu erkunden. Sie hat Zeit, sich umzuschauen und zu orientieren. All das ist für sie sehr anstrengend. Zu Hause wieder angekommen, sprechen wir nicht mehr über den Schimmbadbesuch. Ich warte ab, bis sie ein anderes Mal anfängt, von dem Schimmbadbesuch zu reden. Und wir stellen fest, dass es gut lief: Sie ist nicht gestolpert, sie hat sich gut führen lassen, zeitlich haben wir es gut geplant, und gut, dass sie den Langstock dabeihatte. So haben wir eine Weile das Schwimmbadthema nachgearbeitet. Jetzt gehen wir häufiger schwimmen. Sie gewinnt Vertrauen und hat Spaß dabei. Irgendwann sage ich: Wenn du dich im Schwimmbad gut auskennst, wenn dich der Geräuschpegel nicht mehr stresst, zeige ich dir gerne, was es sonst noch alles gibt. (Solebecken, Rutschen, Sauna, Ruhebereich, Dampfbad und so weiter). So hat sie schon mal die Information, dass das Schwimmbad noch mehr zu bieten hat. Wie es weitergeht, ob es sie überhaupt interessiert, überlasse ich wieder ihr. Vielleicht sollte sie immer schon mal in die Sauna und hat sich nie getraut, schon gar nicht mit Assistenz. Indem ich ihr sage, dass es eine Sauna gibt, sage ich ihr indirekt: Auch du kannst in die Sauna gehen. Ich bin bereit, dich zu begleiten.

Das ist ein langer Prozess, und vielleicht traut sie sich nie in die Sauna, aber meine Aufgabe ist es, ihr die Möglichkeiten aufzuzeigen, was mit Assistenz alles möglich, und überhaupt denkbar ist.

Maßstab bei allen Freizeitaktivitäten ist ganz alle die taublinde Person. Sie sagt: bis hierher und nicht weiter – als Taublindenassistentin akzeptiere ich es. Dadurch wird Stress vermieden und die Angst schwindet. Der Spaß kommt dann von ganz alleine.

1) In der Folge für eine bessere Lesbarkeit mit „taubblinde Menschen“ oder „Taublinder“ bezeichnet.

2) Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird der Einfachheit halber nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.

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