Fachbuch - Das CHARGE-Syndrom (Leseprobe 2)

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Bildung durch Erleben wie Bildung entsteht

Das Märchenprojekt »Dornröschen« als Bildungsanlass für Timo, ein Kind mit CHARGE-Syndrom

Ursula Harsch

Alle Kinder alles lehren -dagegen kann niemand ernsthaft etwas haben, im Gegenteil, in einer Zeit, in der der Bildungsnotstand bundesweit beklagt wird, kann man das nur gutheißen. Doch dann regen sich erste Zweifel; echte Bedenken werden laut: Alle Kinder – alles lehren? Wie soll das möglich werden? Auch, und gerade in der Sonderpädagogik gibt es Grenzen. Dürfen wir diese Grenzen als Aufforderung verstehen, mutig immer wieder nach neuen Wegen zu suchen, die es trotz vorhandener Schwierigkeiten möglich ma­chen, mehrfach behinderten hörsehgeschädigten Kindern, Kindern out CHARGE-Syndrom, alles zu lehren? Sind Märchenprojekte ein erster, wichtiger Schritt auf diesem Weg? Um Antworten auf diese Fragen geben zu können, muss man sich in seiner pädagogischen Orientierung frei machen von den Gutachten, den Daten, den Aus­sagen, die wir von dem Kind haben, um ihnen Angebote zu machen, (Buber 1964; Hentig 1985; Klafki 1985; Korczak 1998), von denen wir durch sensibles Hinschauen und durch die in früheren Märchen­projekten (Harsch 2001) bereits gemachten Erfahrungen annehmen dürfen, dass sie dem Kind helfen, sich zu entwickeln und zu entdecken, was in ihm steckt. Im Dialog mit anderen Kindern kann es sich in unterschiedlichen Situationen, die ihm so ganz Unterschiedliches abverlangen, selbst erfahren und staunend erleben, was alles in ihm steckt. Diesen Prozess möglich zu machen, ist eine grundlegende Aufgabe pädagogischen Handelns, die bestimmt ist von einem positiven Menschenbild, das eine dialogische ressourcenorientierte Bildung erst möglich macht.

Diese ersten Schritte in den Dialog und die darin stattfindenden Bildungsanlässe in der Gemeinschaft mit anderen Kindern und Erwachsenen werden nachfolgend am Beispiel von Timo, einem Kind mit CHARGE-Syndrom, dargestellt und die bildungstheoretische Diskussion daran festgemacht. Hierzu wird auf die Dokumentation des Märchenprojekts Dornröschen, einem Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Laufzeit 1996 bis 2000) im Rahmen dialogischer Bildungsforschung bei mehrfachbehinderten Kindern zurückgegriffen.

Ein Märchenprojekt für Kinder mit CHARGE-Syndrom?

In dieser Frage sind grundlegende Zweifel formuliert, weil ein Märchenprojekt ein nahezu unlösbares Problem für Kinder mit diesen Lernproblemen darstellen, wie ein sehr engagierter Hörgeschädigtenpädagoge versichert. Dennoch war er bereit, ein solches Projekt in seiner Kindergartengruppe, deren Kinder als hörgeschädigt mit Zusatzbehinderungen diagnostiziert waren, durchzuführen.

Grundlegende Fragen zum Märchenprojekt, die gelöst werden mussten, waren:

  • Wie kann man einem hörgeschädigten Kind, das zusätzliche Lernprobleme hat, ein Märchen erzählen: über einen Film, über ein Bilderbuch?
  • Wie kann man absichern, dass das Kind auch nur eine Idee von dem Märchen in sich entwickeln kann, und vor allem:
  • Wie kann man das, was ein Märchen für das Kind zu einem Märchen macht, für das Kind erlebbar machen?
  • Wie kann der Zauber eines Märchens für das Kind Wirklichkeit werden, vor allem dann, wenn nur begrenzte Möglichkeiten der Wahrnehmung zur Verfügung stehen?
  • Wie kann man eine Märchenwelt im echten Sinne entstehen lassen, in der das Kind zum Beispiel wirklich die Anmut von Dornröschen erlebt, die Angst um sie spürt? Wie kann es sich vielleicht selbst als böse Fee erleben und dabei dem Zauber unterliegen, den die Macht, Furcht zu erzeugen, auslöst? Wie kann es die Trauer um Dornröschen erfahren und die Erlösung spüren, wenn es weiß, dass es nur schläft, und wie kann es letztendlich die Freunde nachempfinden, wenn Dornröschen lebt und mit dem Prinz Hochzeit hält?
  • Wie sollen all diese Erfahrungen möglich werden, die doch so grundlegend sind, um den Zauber es Märchens zu erleben?

Das geht nicht, so die Meinung erfahrener Pädagogen. Märchen zeigen uns in der Hörgeschädigten-Pädagogik, noch dazu unter solchen erschwerten Bedingungen, nun einmal die Grenzen. In der Diskussion haben wir Antworten gesucht. Die wichtigsten, richtungsweisenden und entscheidenden waren: Wir müssen versuchen, diese Grenzen zu überschreiten. Unsere Argumente, die gleichzeitig unsere pädagogische Grundhaltung kennzeichnen, waren und sind:

Wo die traditionellen Wege der Bildungsvermittlung an ihre Grenzen stoßen, darf die Antwort darauf kein hilfloses Achsenzucken sein oder ein "Schade, die Kinder können das eben nicht", sondern es ist Aufgabe der Pädagogik, darüber nachzudenken, welche Angebot die Kinder brauchen, um ein Märchen als Bildungsgut für sich zu erwerben.

Märchen sind ein Bildungsgut und sie gehören zu unserem kulturellen Erbe. Alle Kinder haben ein Recht auf Märchen; alle Kinder haben ein Recht auf Bildung.

Diese Forderungen sind in der Hörgeschädigten-Pädagogik noch keine Selbstverständlichkeit. Nicht, weil den Kindern Märchen vorenthalten werden sollen, sondern weil die Angst vorherrscht, den Kindern zu viel zuzumuten, ihnen ihre Grenzen zu zeigen, sie zu entmutigen, ihnen zu zeigen, was sie nicht können. Diese Gefahr ist ganz besonders bei Kindern mit zusätzlichen Lernproblemen gegeben, also auch bei Kindern mit CHARGE. Das wollen wir ganz sicher nicht.

Wir waren jedoch davon überzeugt, dass jedes einzelne Kind mehr kann als das, was die diagnostischen Daten aussagen, dass es Potenziale in sich trägt, die es entwickeln kann. Dazu muss es aber auch Angebote erhalten, die ihnen die Möglichkeit geben, das, was in ihm steckt, zu entdecken, sich selbst zu entdecken, mit seinen Gefühlen und mit seinen Emotionen, sich zu erleben und seine Grenzen zu erfahren und als sozial handelnder Mensch mit anderen in den handelnden und sinnlichen Dialog zu treten, in der Freiheit, alle diese Angebote auch abzulehnen bzw. nicht zu beachten, wenn sie ihm nichts sagen, wenn es nichts mit ihnen anfangen kann.

Märchen enthalten solche Angebote. Sie enthalten emotionale Botschaften, die man erleben kann, und sie verkörpern Personen, mit denen man sich identifizieren kann. In beiden Aspekten liegen ihre Bildungsrelevanz.

Doch wie kann man diese Forderungen umsetzen?

Eine erste Hürde zeigt sich, wenn die Kinder noch nicht über ein Symbolsystem verfügen, wenn Sprache nicht gehört wird, Gebärdensprache noch nicht erlernt ist, vielleicht deshalb noch nicht gelernt werden konnte, weil auch sie eine differenzierte kognitive Kompetenz voraussetzt; vielleicht, weil auch sie auf Grundfähigkeiten zurückgreift, die als notwendig für den Lernprozess angesehen werden:

Beziehungen mit anderen Menschen herzustellen, in den Dialog mit anderen Menschen zu treffen.

Nicht immer können Kinder diese Fähigkeiten für sich entwickeln.

Timo, von dem ich berichte, war aufgrund monatelanger Krankenhausaufenthalte sowie Behinderungen in der körperlichen Motorik noch nie mit anderen Kindern zusammen gewesen. Erschwerend war für ihn darüber hinaus, dass er, wie die meisten CHARGE-Kinder, Probleme mit dem Sehen hatte, dass er fast nichts gehört hat, dass er noch nicht selbstständig essen konnte und dass seine kognitiven Fähigkeiten als schwach eingeschätzt wurden.

Seine Welt war weitgehend noch eine einsame Welt, in der er seine Dialogfähigkeiten und seine Beziehungen zu anderen Kindern und auch zu Erwachsenen nicht altersgemäß entwickeln konnte. Diese Fähigkeiten sind jedoch Voraussetzung, um auf andere Menschen zugehen und die Angebote dieser Welt wahrnehmen zu können, um sich mit beiden – Menschen und Welt – auseinandersetzen zu können. In diesem Alter sind diese Fähigkeiten die grundlegende Voraussetzung für Bildungsprozesse.

Auf folgende Fragen haben wir, bezogen auf Tom, Antworten gesucht:

Ist es möglich, Timo, dem aufgrund zusätzlicher Lernprobleme die traditionellen Wege der Bildungsvermittlung weitestgehend verschlossen sind, ein Märchen so zu erzählen, dass er den Zauber des Märchens erleben und für sich erschließen kann und dadurch in der Lage ist, das Mädchen zu konstruieren und zu erzählen? Mit Erzählen ist gemeint, dass er in der Lage ist, das Märchen mit uns oder mit den anderen Kindern so zu spielen, dass es mit diesem Spiel erzählt wird.

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