Trommelwirbel Ausgabe 35
Leseprobe
Unsere kleine große Kämpferin
Unsere Geschichte
Wir vier - das sind Christopher (39), Isabel (8), Olivia (4) und ich, Nadine (38). Wir leben in der Nähe von Neuruppin, einer hübschen Brandenburger Kleinstadt, ca. 80 km nördlich von Berlin. Unsere CHARGE-Reise begann am 23.05.2020, als unser zweites Wunschkind Olivia das Licht der Welt erblickte. Und sie begann für uns völlig unerwartet. Nachdem unsere Isabel 2016 mit beidseitigem, fast komplettem Nierenversagen zur Welt kam und die ersten zwei Monate ihres Lebens unter Bauchfell-Dialyse in der Berliner Charité verbringen musste, waren wir selbstverständlich in der zweiten Schwangerschaft besonders vorsichtig. Bis auf eine kleine - für uns und den behandelnden Gynäkologen damals noch banale - Auffälligkeit am Herzen während der Feindiagnostik gab es keine weiteren Hinweise oder Probleme während der Schwangerschaft. Ein paar Tage vor dem errechneten Geburtstermin ging die Geburt mit einem Blasensprung normal los und verlief auch im weiteren Verlauf völlig normal - bis Olivia den ersten Atemzug durch die Nase nehmen musste, um den ersten Schrei von sich zu geben. Die Hebamme hielt sie kopfüber und äußerte dann so etwas wie „Oh, sie hat wohl etwas Fruchtwasser verschluckt!“. Und dann ging alles ganz schnell: die Ärztin, die uns wegen unserer Vorgeschichte im Kreißsaal begleitet hatte, nahm Olivia und verschwand in die Neonatologie - eigentlich nur ein paar Räume weiter, weil unser Krankenhaus in Neuruppin nicht sehr groß ist. Olivia kam morgens gegen fünf Uhr zur Welt und erst knapp zwei Stunden später kam die diensthabende Ärztin, um uns mitzuteilen, dass es Probleme mit der Nase gäbe. Nachdem man vergeblich versucht hatte, sie wegen des bereits stattgefundenen Sauerstoffmangels über die Nase zu intubieren, wurde sie sediert, über den Mund intubiert und mit einer Magensonde versorgt. Wir erfuhren, dass sie - aufgrund des Sauerstoffmangels - eine Kältetherapie benötigt, bei der der Körper unter Vollnarkose für 72 Stunden auf 33 Grad Celsius gekühlt wird, um den Schaden im Gehirn so gering wie möglich zu halten. Für diese Therapie muss sie aber sofort ins Ernst-von-Bergmann-Klinikum nach Potsdam verlegt werden; der Transport sei bereits eingeleitet und ich als frisch gebackene Mama dürfe mitverlegt werden. Kurze Erinnerung: Wir befinden uns im Mai 2020 - CORONA! Also kam alles anders: Olivia wurde gegen neun Uhr von den Potsdamern abgeholt und der mitgefahrene Arzt war dann so „freundlich“, uns mitzuteilen, dass ich wegen der aktuellen Corona-Lage nicht mitverlegt werde, sondern Olivia eine Stunde am Tag besuchen dürfe bzw. wir als Eltern abwechselnd. Nach der Geschichte mit Isabel vier Jahre vorher brach für uns ein weiteres Mal eine Welt zusammen. Nicht schon wieder! Warum wir? Wann wachen wir aus diesem Alptraum auf? Kann uns bitte jemand kneifen!
Und in diesem Moment fing das „Funktionieren“ an. Wir entschieden, dass Christopher direkt nach Potsdam fährt und ich für wenigstens eine Nacht auf der Neuruppiner Wochenbettstation zur Beobachtung blieb. Da lag ich also: in einem leeren Zimmer, wieder ohne Kind neben mir. Ich beobachtete Christopher über eine Handy-App, wie er nach Potsdam fuhr und wunderte mich, dass er auf der halben Strecke umdrehte. Es stellte sich bei den ersten Untersuchungen in Potsdam heraus, dass Olivia einen massiven Herzfehler (DORV, ASD II) hat und direkt weiter nach Berlin in die Charité (Campus Virchow, weil direkt neben dem Deutschen Herzzentrum) verlegt werden muss. Christopher holte mich also direkt wieder ab und wir fuhren sofort weiter nach Berlin; im Übrigen fuhr uns einer unserer besten Freunde, weil auch Christopher vor Schock nicht in der Lage war, ein Auto zu lenken. Was wären wir in der ganzen Zeit ohne Familie und Freunde gewesen! In Berlin angekommen - etwa 12 Stunden nachdem Olivia geboren wurde - standen wir also auf der Kinderintensivstation für Neugeborene im Virchow-Klinikum - dieselbe Station, auf die vier Jahre vorher auch Isabel von Neuruppin verlegt worden ist, dasselbe Zimmer und eine uns bekannte Krankenpflegerin. Absolutes Déjà-vu!
Im ersten Gespräch mit einem der behandelnden Ärzte noch am selben Abend hörten wir das erste Mal etwas von einer Choanalatresie und erfuhren, dass der bereits in Potsdam diagnostizierte Herzfehler dringend im Alter zwischen drei und sechs Monaten operiert werden muss. Außerdem wurden Veränderungen an beiden Augen bemerkt - Iriskolobome beidseitig. Mit diesem Wissen wurden wir also in unsere erste Nacht als frisch gebackene zweifache Eltern „entlassen“; Christopher fuhr nach Hause und ich blieb - trotz Corona in Berlin ohne Probleme - auf der Wochenbettstation. Unabhängig voneinander befragten wir eine bekannte Suchmaschine zur Choanalatresie und landeten beide immer wieder beim CHARGE-Syndrom. Wir wollten es zu der Zeit nicht wahrhaben und verdrängten es erst einmal ganz einfach, um für Olivia im Krankenhaus und ihre Schwester Isabel zu funktionieren.
sten Gespräch mit einem der behandelnden Ärzte noch am selben Abend hörten wir das erste Mal etwas von einer Choanalatresie und erfuhren, dass der bereits in Potsdam diagnostizierte Herzfehler dringend im Alter zwischen drei und sechs Monaten operiert werden muss. Außerdem wurden Veränderungen an beiden Augen bemerkt - Iriskolobome beidseitig. Mit diesem Wissen wurden wir also in unsere erste Nacht als frisch gebackene zweifache Eltern „entlassen“; Christopher fuhr nach Hause und ich blieb - trotz Corona in Berlin ohne Probleme - auf der Wochenbettstation. Unabhängig voneinander befragten wir eine bekannte Suchmaschine zur Choanalatresie und landeten beide immer wieder beim CHARGE-Syndrom. Wir wollten es zu der Zeit nicht wahrhaben und verdrängten es erst einmal ganz einfach, um für Olivia im Krankenhaus und ihre Schwester Isabel zu funktionieren.
Nach zwei Tagen Wochenbettstation hatte ich das Glück, im nahe gelegenen Ronald-McDonald-Haus ein Zimmer zu bekommen und zog dort ein. Ich kannte die dortigen Gegebenheiten sehr gut: als Isabel vier Jahre vorher im Virchow behandelt worden ist, wohnten Christopher und ich auch dort. Nun fing also der Klinikalltag an. Neben Rund-um-die-Uhr-Besuchen meinerseits bei Olivia pumpte ich alle drei bis vier Stunden Muttermilch ab. Auch ich wollte Olivia wenigstens etwas Gutes tun. Nach drei Tagen Kältetherapie wurde sie wieder „erwärmt“ und langsam aus der Narkose geholt. In der Zwischenzeit fiel mir schon ihr ungewöhnliches Äußeres auf: Leicht verformte Ohren, kaum Hals, flache Stirn, platte Nase. In einem der unzähligen Gespräche mit den Ärzten fiel auf einmal auch das „CHARGE-Syndrom“ seitens der Mediziner, da war Olivia drei Tage alt. Ich konnte es nicht fassen und konzentrierte mich weiter auf Olivia. Nach der Kältetherapie wurde ein MRT vom Kopf durchgeführt und unter der gleichen Narkose wurde auch die Choanalatresie mittels Röhrchen behandelt, damit die Beatmung über den Tubus zügig beendet werden konnte. Olivia war vier Tage alt. Am nächsten Tag fand dann das für uns bis heute schlimmste Arztgespräch mit dem Arzt und - zum Glück - in Begleitung einer tollen Elternberatung, die uns vor allem psychologisch von Anfang an zur Seite stand, statt. Der Arzt teilte uns recht leidenschaftslos mit, dass der Sauerstoffmangel keine größeren Schäden am Gehirn verursacht hat, es aber trotzdem andere Auffälligkeiten gibt. Diese wurden uns vorgetragen wie eine Einkaufsliste: Sehnerven beidseitig schlecht bis gar nicht ausgeprägt - in Verbindung mit den bereits beidseitig diagnostizierten Iriskolobomen wird sie wohl kaum bis gar nicht sehen können; beidseitig verkümmerte Hörnerven - also auch Einschränkungen beim Hören und folglich bei der Sprache; nicht richtig entwickeltes Groß- und Kleinhirn - heißt Verzögerungen oder Einschränkungen sowohl bei der körperlichen als auch geistigen Entwicklung. Da saßen wir! Geschockt! Kaum Luft zum Atmen unter der coronabedingten Maske! Ich merkte, wie mein Mann in sich zusammenbrach. Die Elternberatung versuchte, etwas zu vermitteln, indem sie von Physio-, Ergotherapien, Möglichkeiten der Förderung des Hörens und Sehens sprach. Aber wir waren einfach nur fertig und wollten erst einmal beide nur nach Hause zu unserer großen Tochter - was wir dann in Rücksprache mit den Ärzten und mit Hilfe unserer Familie machten. Wieder einmal hatten wir Glück: Christophers Schwester wohnt in der Nähe von Berlin und hat uns abgeholt und zu Isabel nach Hause gefahren. Wir waren wieder nicht in der Lage, selbst ein Auto zu lenken. Meine Schwester hat Isabel anfangs fast die ganze Zeit in Obhut und sie behutsam abgelenkt. Denn mit 4 Jahren hat sie selbstverständlich nach ihrer kleinen Schwester gefragt.
Nachdem bei Olivia also die Röhrchen gesetzt worden waren, ging es los mit dem Absaugen. Olivia bekam spätestens alle halbe Stunde pures Vitamin C in die Röhrchen verabreicht und wurde abgesaugt. Das gehörte dann relativ schnell zu meinen alltäglichen Aufgaben in der Klinik. Im Laufe der kommenden Wochen wurden die Abstände des Absaugens immer länger und ich entwickelte eine Routine. Zu dieser Routine zählten schnell auch nach wie vor das Abpumpen von Muttermilch, das Sondieren und vor allem ganz viel Kuscheln. Etwa alle zwei Tage kam uns auch Olivias Papa besuchen; er musste sich ja zu Hause derweil um Isabel kümmern, die wegen Corona nicht in die Kita konnte. Glücklicherweise ist das Virchow-Klinikum nur eine knappe Stunde mit dem Auto von unserem Zuhause entfernt. Bereits zwei Tage nach dem Setzen der Röhrchen brauchte Olivia keinen Sauerstoff mehr und zeigte die ersten aktiven Zeichen: hörbarer Protest beim Wickeln, leichtes Blinzeln. Wir freuten uns über jedes noch so kleine Detail. Mit einem Alter von einer Woche wurden wir bereits damit konfrontiert, wie es noch vor der Herz-Operation zu Hause weitergehen kann: Ernährung über die Magensonde, Absaugen, Monitorüberwachung. Aber all das nur mit Pflegedienst für 24 Stunden an 7 Tagen!
Die Tage und ersten Wochen vergingen und dann stand plötzlich der nächste Eingriff unter Vollnarkose an: per Katheter-Eingriff wurde in Vorbereitung auf die große Herz-Operation der Ductus erfolgreich geschlossen. In den folgenden zwei Wochen wurde dann seitens der Klinik alles in die Wege geleitet, dass Olivia erst einmal nach Hause entlassen werden kann. Es wurde ein Intensivpflegedienst gefunden, der Olivia zu Hause bis zur anstehenden Herz-Operation rund um die Uhr begleiten sollte. Mit sechs Wochen wurden wir dann also nach Hause entlassen. Einerseits waren wir überglücklich, andererseits auch total unsicher, wie es wohl wird, wenn rund um die Uhr jemand „Fremdes“ im Haus sein wird. Dazu kam vor allem die Unsicherheit mit Olivias oraler Magensonde, die sie sich auch in der Klinik mehrfach gezogen hatte, die sie aber unbedingt brauchte, weil sie so gut wie nichts über den Mund zu sich nahm. Über eine PEG-Sonde wurde gesprochen; die Ärzte hielten es aber für nicht notwendig, weil sie fest davon ausgingen, dass Olivia bald trinken würde. Und es kam, wie es kommen musste: auf dem Weg nach Hause brach Olivia die Sonde aus. Zu Hause angekommen ging es dann also gleich das erste Mal auf die Neonatologie, um die Sonde neu legen zu lassen. Es stellte sich nämlich zügig heraus, dass wir keinen Kinderintensivpflegedienst an unserer Seite hatten, sondern eine Agentur, die ein Team aus freiberuflichen Pflegekräften für uns zusammenstellte - leider hatten die wenigsten Erfahrungen mit Kindern.
Es folgte ein Sommer mit vielen Terminen bei Ärzten, Therapeuten und vor allem mit verschiedenen Pflegekräften. Diese absolvierten bei uns jeweils 12-Stunden-Dienste und wechselten ständig. Bei manchen hatten wir ein gutes Gefühl, bei anderen schauten wir ganz besonders über die Schultern. Zwischendurch waren wir es sogar, die den Pflegekräften zeigen mussten, wie die Nase abgesaugt wird. Aber wir waren trotzdem unendlich dankbar, dass wir sie hatten, weil wir so wenigstens nachts schlafen konnten und auch die eine oder andere Stunde etwas mit unserer großen Tochter unternehmen konnten, damit sie nicht ganz „hinten überfällt“. Sie hat ihre kleine Schwester wirklich herzzerreißend zu Hause aufgenommen und ihr als allererstes die Haare gebürstet. Nach zwei Monaten zu Hause stand Anfang September 2020 die Herzoperation im Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZB) an. Weil klar war, dass Olivia danach eine ganze Weile im Krankenhaus bleiben würde, zog ich erneut in das nahe gelegene Ronald-McDonald-Haus. Die Operation fand dann am 2. September 2020 statt. Wir begleiteten Olivia ganz früh morgens in den Operation und dann begann das bange Warten. Operiert wurde sie vom Direktor der Klinik für Chirurgie Angeborener Herzfehler Herrn Prof. Dr. med. Photiades. Für uns ein Held in weiß! Nach zwölf Stunden war klar, dass die Operation höchst kompliziert war, aber sehr gut verlaufen war.
Leider stellte sich im Laufe der Zeit im HTZ heraus, dass sie keine Töne auf der linken Seite wahrnimmt. Wir haben trotzdem akribisch darauf geachtet, dass sie das linke Gerät genauso lange trägt, wie das rechte. Da sie die Prozessoren von Anfang an über ein Stirnband sehr gut akzeptiert hat, war und ist das bis heute kein Problem. Sie trägt die CI mittlerweile zehn bis zwölf Stunden am Tag. Und die Ausdauer hat sich ausgezahlt: seit diesem Frühsommer reagiert sie bei der CI-Einstellung im HTZ auch mit links auf jeden Ton. Olivia hat mittlerweile eine für ihre Verhältnisse sehr gute Sprache entwickelt und kann sich ihrem Gegenüber gut äußern. Sowohl für die Frühförderin, für die Therapeuten im HTZ als auch für ihre Familie ist es ein großes Wunder, dass sie bis heute keine Gebärdensprache benötigt und sich so gut verständigen kann. Eine weitere große Baustelle bei unserem CHARGE-Kind war und ist nach wie vor die Nase. Nachdem die Röhrchen nun viel zu früh entfernt werden mussten, waren wir anfangs regelmäßig zur Kontrolle in Berlin, um untersuchen zu lassen, ob sie durch die Nase Luft bekommt. Zu Hause stellten wir bereits recht schnell fest, dass sie ausschließlich durch den Mund atmet. Allerdings lief ihre Nase permanent, sodass lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass die Choanen zumindest leicht geöffnet sind. Nach ewigem Hin und Her wurde sie Anfang Oktober 2023 operiert und die Nase wurde wieder geöffnet. Dabei stellten die Ärzte fest, dass sich lediglich Gewebe vor die Choanen gesetzt hatte und man dieses relativ leicht entfernen konnte. Da die Ärzte allerdings entschieden, ohne Röhrchen als Platzhalter zu operieren, kam, was kommen musste: nur ein paar Tage nach der Operation stellten die Ärzte bei der Nachkontrolle fest, dass sich die Öffnung wieder verschloss.
Also gab es Ende November 2023 einen weiteren Eingriff, bei dem dann Platzhalter gesetzt worden sind. Diese wurden dann Mitte Januar 2024 ambulant und ohne Narkose (!!!) entfernt. Seitdem haben wir und unsere Logopädin, die wir seit einigen Wochen unter anderem wegen der Nasenatmung an unserer Seite haben, das Gefühl, dass Olivia so langsam lernt, durch die Nase zu atmen. Daran arbeiten wir also weiter.
Diese langsam beginnende Nasenatmung wirkt sich teilweise auch auf Olivias Ess- und vor allem Trinkverhalten aus. Wie die meisten CHARGE-Kinder, die wir bisher kennengelernt haben, hat auch Olivia ihre ganz eigene und besondere Beziehung zum Essen. In den ersten Wochen und Monaten wurde sie ausschließlich über die PEG mit meiner Muttermilch ernährt, die mit zusätzlichen Kalorien angereichert wurde. Im Laufe der Zeit merkten wir, dass sie so langsam leichtes Interesse am Essen hat. Wir fingen also damit an, dass Olivia ab und an mal einen Löffel mit etwas Apfelmus ablecken durfte. Obwohl die damalige Logopädin wegen der Aspirationsgefahr die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte, blieben wir dran und siehe da: nach vier Wochen aß Olivia drei volle Breimahlzeiten am Tag. Nach und nach gewöhnten wir ihr die Milch über Nacht ab und sie aß bald alle Mahlzeiten in Breiform. Da war sie ca. ein Jahr alt. Im Laufe der Zeit versuchten wir natürlich immer mal wieder, auf stückige Kost umzustellen; merkten aber immer wieder, dass sie es einfach nicht wollte. Wir fanden uns damit ab und versuchten, zumindest bei den Breien, in alle möglichen Richtungen zu variieren. Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr gab es dann doch immer mal wieder Situationen, in denen Olivia zu festerem Essen griff und sich ausprobierte. Wir mussten einfach - mal wieder - einsehen, dass sie ihr eigenes Tempo hat und selbst zeigt und mittlerweile auch sagt, was sie möchte. Heute sind wir an einem Punkt, wo wir ihr abends keinen Brei, sondern weiches Brot, Gemüse oder Wurst anbieten können. Es landet immer noch sehr viel im Abfall, aber auch immer mehr im Magen. Leider kam im Laufe der Zeit noch dazu, dass Olivia diverse Lebensmittelunverträglichkeiten entwickelte (Milch, Eier, Nüsse, Soja, Sesam). Das schränkt dann bei der Wahl der Lebensmittel zusätzlich ein; aber auch damit lernten wir umzugehen. Selbst ihre Schwester passt da sehr gut auf und ermahnt uns regelmäßig, ob wir auch die Zutatenliste ganz genau gelesen haben. Bei Misstrauen liest Isabel auch gern selbst nochmal nach. Nach wie vor hat Olivia Probleme mit dem Trinken, also der flüssigen Konsistenz; weshalb sie über die PEG noch mit Flüssigkeit versorgt wird. Aber an dieser Stelle kommen wir nochmal zurück auf die Nase: denn durch die langsam beginnende Atmung durch die Nase, merken wir auch, dass sie immer mehr Schlucke trinken kann.
Und die letzte große Baustelle, die wir seit etwa dem dritten Lebensmonat „beackern“, ist die Motorik. Wie bereits angedeutet, hat Olivia keine Bogengänge und ist dazu - wie viele CHARGE-Kinder - muskelhypoton. Also hieß es von Anfang an, dass Olivia mit Hilfe der Physiotherapeutin die für normal entwickelte Kinder selbstverständlichen Bewegungsabläufe beigebracht werden müssen. Und das zu Beginn nicht immer mit Begeisterung. Als es zum Beispiel darum ging, ins Krabbeln zu kommen, hat Olivia regelmäßig in den Therapiesitzungen geschrien, sodass ich manchmal dachte, sie würde unnütz gequält werden. Aber sobald sie selbst in der zweiten oder dritten Einheit gemerkt hat, dass es sie - wie ihre Therapeutin immer sagt - nach oben bringt, war Olivias Ehrgeiz gepackt und sie versucht es immer und immer wieder. Das lief vom ersten Drehen, über das Aufstützen, das Krabbeln, das Aufrichten bis hin zum Laufen immer im gleichen Schema ab. Heute flitzt sie mit ihrem Rollator mit Freude allen davon. Sie kann nach wie vor nicht selbst gehen. Aber auch da sind wir optimistisch, dass sie uns eines Tages wieder überraschen und einfach loslaufen wird.
Mittlerweile können wir sagen, dass wir trotz des Schicksalsschlages und der anfänglichen Aussicht auf einen kompletten Pflegefall sehr glücklich mit unserer Olivia und ihrer Entwicklung sind. Sie ist ein fröhliches, aufgeschlossenes und freches Mädchen, das sehr gern in die Kita geht; sie liebt ihre Schwester, die ihr ohne jegliche Berührungsängste alles vormacht und zeigt, was man von einer großen Schwester lernen kann! Sie saugt in ihren Therapien (Physiotherapie, Logopädie, Frühförderung, Hörtherapie) regelrecht alles Wissen auf und kann es bei Abruf reproduzieren. Olivia hatte von Anfang an nie Probleme, sich auf andere Familienmitglieder und Freunde einzulassen. Mittlerweile hat sie sogar ihre deutlichen Lieblinge in unserem Freundeskreis und schreibt uns Eltern völlig ab, wenn diese in ihrer Nähe sind.
Auch wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen und Danke sagen für die großartige Unterstützung, die wir in all der Zeit erfahren haben und immer noch erfahren: Danke an Olivias und Isabels Großeltern, vor allem nach Schrepkow! Wir wissen, dass wir immer auf euch zählen können! Danke an Sina und Thomas sowie Enno und Lindi! Ihr seid die Besten! Danke an Stefanie, die beste Physiotherapeutin; an Frau Langenheim, die geduldigste Frühförderin; an das HTZ in Potsdam; an Querleben in Mirow, allen voran Iris, die Olivia immer so herzlich empfängt und betreut und vor allem an die Kita „Bummi“, die wirklich alles dafür tut, dass Olivia ein ganz normales Kita-Kind sein darf!